„Verpisst euch, Diebe!“ – Wie wir uns Nähe trotz Distanz zurückholen und miteinander verbunden bleiben

Die Pandemie beraubt uns der unbefangenen Nähe zu anderen Menschen und zwingt uns zu Arbeit in Isolation. Wir holen uns die Nähe im virtuellen Raum zurück.

Seit einigen Tagen steht eine kämpferische Ansage auf dem Boden vor unserer Wohnungstür (siehe Foto unten). Sie ist mit Pflasterkreide in großen Buchstaben geschrieben und eindeutig in ihrer Botschaft: Sie lässt alle wissen, die sich in räuberischer Absicht nähern, dass sie wieder gehen sollen und dass bei uns nichts mehr zu holen ist.

Geholt wurde nämlich schon so einiges: der unbefangene Kontakt zu Freunden (kein Übernachten mehr), der gewohnte Ablauf in der Schule (Betreuung mit Lernbegleitung), die unbekümmerte Zuversicht in eine gute Zukunft (die Nachrichten machen Angst), die unbeschwerte Nutzung der Straßenbahn (alle mit Maske, ein hungriger Biss ins Weckerl eine Regelverletzung), ein großer Teil des inneren Spielraums der Erwachsenen (ihre Anspannung spüren vor allem die Kinder).

Zwischen Abstumpfung und Gelassenheit

Während sich bei manchen Menschen im Vergleich zum Frühjahr eine gewisse Wurstigkeit ausmachen lässt, die irgendwo zwischen Abstumpfung und Gelassenheit pendelt, berichten andere von mehr Anspannung in den Firmen denn je: mit dem zweiten Lockdown treten die Mechanismen der Ungleichheit wieder in Kraft, die vor allem berufstätigen Frauen mit Kindern die Mehrfachbürde von Arbeitslast und Kinderausgleich zuschieben. Und es ist keine geringe Aufgabe, nicht nur die eigene Stabilität in belastenden Umständen zu bewahren, sondern zusätzlich die schwankenden Emotionen anderer zu stabilisieren (eine zentrale, aber wenig gesehene Aufgabe von Eltern).

Eine Zerreißprobe innen und außen

Manchmal betreffen diese schwankenden Emotionen auch Kolleginnen und Kollegen. Die allgemeine Anspannung und eine gewisse Zermürbung fordern ihren Tribut: anders als im Frühjahr mengt sich bei mehr Menschen depressive Verstimmtheit in den Chor der Stimmungen hinein, man kann vermehrt einen ängstlichen Grundton vernehmen. Manchmal sind das sehr handfeste und nachvollziehbare Ängste: schließlich stehen Existenzen auf dem Spiel (haben Sie auch schon mehr und mehr Geschäfte in Ihrem Grätzel gesehen, die geschlossen bleiben werden?). Manchmal handelt es sich um Ängste ohne unmittelbaren Anlass – wir wurden noch nie ausgeraubt, und versucht hat es auch niemand -, sie spiegeln eher einen grundlegenden Verlust an Sicherheit wieder. Dennoch wiegen diese Ängste schwer auf der Seele.

Diese Spannungen der Menschen schwappen auch in die Arbeitskontakte hinüber und belasten die Belegschaft. Verschärfend wirkt, dass sehr viele Menschen zur Zeit wenig zu Ausgleichsleistungen im Stande sind. Anders als im Frühjahr sind unsere Kräfte aufgezehrt. „Es fühlt sich an wie eine Zerreißprobe“, sagt eine Führungskraft im Coaching, „Ich spüre die Spannungen in der Belegschaft ganz genau und jeder will was von mir, aber was kann ich tun?“.

Was können Führungskräfte tun?

Zum Ersten: Wenn Sie eine Führungskraft sind, die in hohem Ausmaß empfänglich ist für die Stimmungen, Spannungen, Bedürfnisse und Nöte der Kolleg*innen (und daher wahrscheinlich viel Zeit und Energie in diese Richtung aufwenden): Grenzen Sie sich ab und verschaffen Sie sich innere Rollenklarheit. Wieviel Platz wollen Sie dieser Komponente in Ihrer Führungsarbeit geben? Und was ist zu viel und soll daher künftig weniger werden?

Während der Arbeitsplatz ein menschlicher Ort sein soll, ist er keine Selbsterfahrungs- oder Therapiestätte. Er dient in erster Linie dazu, gemeinsam etwas weiter zu bringen (und zwar eine vereinbarte Leistung).

Zum Zweiten: Stellen Sie Informationen über externe Hilfsangebote zur Verfügung. Machen Sie es der Belegschaft einfacher, sich Unterstützung zu holen: z.B. Kontaktadressen des Psychosozialen Dienstes, von Erziehungsberatungsstellen, RataufDraht, Psychotherapie (Krisenintervention). Sie signalisieren damit auch, dass Belastung und externe Unterstützung kein exotischer Einzelbedarf sind, sondern leider Teil der „neuen Normalität“.

Zum Dritten: Schaffen Sie Kontakt und Struktur, denn Struktur schafft Sicherheit und Orientierung. Sie stellt einen sicheren Rahmen dar, der zumindest einen Teil der Ungewissheiten durch Vorhersehbarkeit begrenzt. Eine der Gefahren von Homeoffice ist ja Isolation und die zunehmende lose Kopplung, die durch den Verlust des geteilten physischen sozialen Ortes einsetzt. Je nach Firmenkultur kann das zwar auch eine Erleichterung darstellen (z.B. wenn die Stimmung im Betrieb schlecht ist und die Meetings üblicherweise unerfreulich), aber die Lockerung von Verbindung und Verbindlichkeit ist auf die Dauer für jede Organisation problematisch.

Was meine ich mit Kontakt und Struktur?

Schaffen Sie virtuelle soziale Räume, in denen sich die Belegschaft regelmäßig trifft und in denen sowohl Persönliches, als auch Berufliches Platz hat. Konkret könnte das ein verpflichtendes wöchentliches online Treffen der Abteilung sein, zu dem Sie als Führungskraft alle Kolleg*innen zusammen rufen. Ermöglichen Sie eine Runde des Ankommens, in der jedeR mitteilen kann, was gerade beschäftigt und was sie/ er noch loswerden möchte, um sich zur Gänze auf die Arbeitsbesprechung einlassen zu können. Achten Sie aber gut darauf, dass Sie keinen Gruppendruck für Selbstoffenbarung entstehen lassen. Gerade in fragilen Zeiten voller Druck ist es wichtig, mit Feingefühl die Grenzen der anderen zu wahren. Sorgen Sie für eine aufmerksame, respektvolle Atmosphäre. Es geht um das Aussprechen und Gehörtwerden, nicht um Lösungen, gute Tipps oder Kommentare.

Schließen Sie nach diesem kurzen Einstieg mit allen die Besprechung der Arbeitsinhalte an. Wer steht wo? Wer befasst sich gerade womit? Gibt es Schwierigkeiten oder Unterstützungsbedarf? Diese Besprechungsthemen sind Klassiker, um einen grundlegenden Informationsstand zu gewährleisten und um dem zunehmenden Einzelkämpfertum und der Isolation entgegenzuwirken.

Zum Vierten: Wenn Sie viele Menschen zusammen bringen wollen und eine Veranstaltung oder einen Workshop mit viel Interaktion brauchen, aber nicht wissen, wie dies im virtuellen Raum zu bewerkstelligen ist (wir werden noch einige Monate lang auf Präsenzveranstaltungen verzichten müssen!) – kontaktieren Sie mich ;).

Ich habe mich in den letzten Monaten intensiv damit auseinander gesetzt, wie Qualitäten wie Kontakt, gemeinsamer Fokus, Integration vieler Perspektiven und Dialog auf Augenhöhe in den virtuellen Raum übersetzt werden können und sehr gute Lösungsmöglichkeiten dafür gefunden. Nähe trotz Distanz ist machbar!