Es geht an die Substanz. Wie Sie den Boden unter Ihren Füßen stärken können, um den Anforderungen gewachsen zu bleiben.

Kennen Sie das? Das Lieblingsgeschäft hat wieder offen, die Kinder können in die Schule, die ersten Pläne sind geschmiedet, wie die Wiederbesiedlung des Büros gestaltet werden könnte – dennoch stellt sich weder Erleichterung, noch frische Energie ein, auch nicht in den Führungsetagen. Das Gegenteil ist der Fall: wir beginnen zu spüren, was uns die vergangenen Wochen abverlangt haben – kognitiv, menschlich und sozial. Müdigkeit setzt ein.

„Am Anfang war bei uns im Betrieb fast eine Art Aufbruchsstimmung: „Wir müssen ausprobieren!“, dann war es „Wir schaffen das!“ – aber jetzt geht es an die Substanz. Die letzten Wochen waren sehr anstrengend“, berichtet eine Führungskraft, „Das spüre ich erst jetzt“.

Wer Kinder hat, weiß ein zusätzliches Lied zu singen: oft handelt es von schlechten Träumen, Anspannung, Ängstlichkeit, viel zu wenig Bewegung, Verlust von Autonomie und Freund*innen. „Mein Kind wird immer dünnhäutiger. Wir streiten viel“, erzählt ein Freund. Oder auch „Mein Kind will jeden Abend raufen. Die Freunde gehen ihm ab“. Als Eltern sind wir in diesen Zeiten besonders gefordert, unseren Kindern emotionalen Halt zu geben und Spannungen auszugleichen. Kinder brauchen in dieser Zeit mehr als sonst: mehr Nähe zu den Eltern (weil ihnen keine anderen Menschen bleiben), mehr Sicherheit (weil die Ängste der Erwachsenen abfärben), mehr Brücken um ihre eigenen Gefühle zu verstehen und um mit der Situation umzugehen. Auch das kostet Kraft.

Auf Organisationsebene nehmen Führungskräfte ein verstärktes Bedürfnis nach Orientierung und Kommunikation wahr: „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen zunehmend Aufmerksamkeit. Kommunikation wird immer wichtiger“.

Die Anpassungsleistungen in den letztn Wochen waren enorm. Wir mussten nicht nur neue Routinen für das Zusammenleben entwickeln („Wie tun wir miteinander, wenn alle so viel Zeit in der Wohnung verbringen?“), sondern auch neue Routinen für das virtuelle Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen. Die Situation verlangt uns viele emotionale und kognitive Zusatzleistungen ab, und das geht an die Substanz. Kein Wunder dass wir diese Anstrengungen spüren.

Auf dünnem Eis: Aggression, Angst, Spaltung

Dass es gesellschaftlich knirscht und an die Substanz geht, merken Sie an den Interaktionen mit den Mitmenschen: das dünne Eis der Oberfläche ist brüchig geworden, darunter brodeln die Emotionen. Aggression bricht sich schnell und leicht die Bahn, oft gepaart mit moralischem Urteil. Unter dieser Aggression liegt oft Angst: Angst vor Ansteckung, Angst vor Verlust. Von Sorgen um die wirtschaftliche Existenz ganz zu schweigen.

Diskussionen – beispielsweise über die bevorstehenden Schulöffnungen – verlaufen emotional und stark polarisiert.

Ein besonnener Austausch in Ruhe, in dem verschiedene Perspektiven abgewogen werden und Standpunkte sich verändern können, ist selten möglich. Zu schnell gehen die Emotionen hoch. Zugleich werden im gesellschaftlichen Diskurs dissonante Stimmen laut und Fakten bekannt, für die bislang kein Platz war. Zum Beispiel was die bisherigen Maßnahmen Eltern und Kindern abverlangen, insbesondere berufstätigen Frauen; oder auch die Situation alter Menschen in Pflegeheimen, die jegliche Autonomie und Freiheit verloren haben und seit Wochen in Isolation leben müssen.

Die Situation wiegt schwer – jetzt spüren wir es

All dies sind Anzeichen dafür, dass wir als einzelne Menschen und als Gesellschaft allmählich in die Nähe der Grenzen unserer Belastbarkeit geraten. Wir beginnen das Gewicht der Situation zu spüren. Wir realisieren, dass ein Ende dieser Krise nicht in Sicht ist und dass wir weiterhin mit vielen unangenehmen und belastenden Ungewissheiten leben müssen. JedeR einzelne von uns bleibt auf ungewisse Zeit mehrfach gefordert.

In Krisen bzw. Notsituationen entwickeln viele von uns zusätzliche Kräfte. Körper und Geist mobilisieren, damit schnell und zielstrebig gehandelt und aus der Notsituation hinaus gesteuert wird. Auf die Dauer lassen sich das hohe Tempo und die hohe Belastung aber nicht durchhalten. Wir brauchen Atempausen, um zu uns zu kommen, uns zu orientieren und unsere Kräfte zu sammeln.

Was können Sie tun?

…um für sich selbst einen tragfähigen Boden zu schaffen?

Der Ansatz, mit dem ich arbeite, bietet dafür eine hilfreiche Antwort: „Host yourself“ im Sinne von „Sei dir selbst eine gute Gastgeberin bzw. ein guter Gastgeber“. Diese Kurzformel meint: Sorge dafür, dass du „zu dir kommst“ und wahrnimmst, was in dir vorgeht und wo du dich auf deiner inneren Landkarte befindest. Oft ist es diese basale Fähigkeit, die uns in Krisen und unter Dauerbelastung als erstes verloren geht. Wer sich aber selbst nicht mehr zu spüren vermag, verliert die innere Orientierung und erlebt sich als Spielball der Bedürfnisse anderer und der äußeren Umstände. Die Fähigkeit zur Grenzsetzung geht verloren (und der Weg zur Erschöpfungsdepression beginnt).

Präsenz macht den Unterschied

Daher: nur wer sich selbst spürt kann auf die Dauer für andere etwas tun – sei das nun für Kinder, die emotional extra viel fordern oder für den Kollegen, dem die Angst vor Ansteckung im Nacken sitzt und der mit seiner Angst auch den Rest der Belegschaft ansteckt.

Sich selbst zu spüren und geerdet zu sein heißt mit beiden Beinen auf dem eigenen Boden zu stehen. Das öffnet den Weg für Präsenz. Wer sich spürt, kann sich ohne innere Ablenkung auf den Moment einlassen. Wer sich mit ungeteilten Sinnen im Moment befindet, kann besser wahrnehmen, was die Situation erfordert. Präsenz gibt uns den Schlüssel zu innerer und äußerer Wachheit und Wahrnehmungsfähigkeit in die Hand, vielleicht auch zu Unterscheidungsfähigkeit:

Was ist jetzt wirklich wichtig? Worauf kommt es an? Welche der möglichen Entscheidungen unterstützt dies?

Praxis mit Disziplin

Wie Sie zu mehr Präsenz und Erdung kommen haben Sie schon geahnt: es geht darum, eine Praxis auszuwählen und zu kultivieren, die Sie beim Innehalten und Wahrnehmen stärkt – gerade wenn es rundherum drunter und drüber geht und viele Menschen gleichzeitig und möglichst sofort etwas von Ihnen wollen. Oder auch: wenn Ihnen die Ungewissheit der Situation an die Substanz geht und Sie zu überrollen droht, emotional und kognitiv.

Bewährte Praktiken sind z.B. Yoga, Achtsamkeitsmeditation, ein Gebet, Ihr Morgenlauf oder bioenergetische Übungen. Es geht um die innere Ausrichtung. Wie sind Sie imstande, den wirklich herausfordernden Herausforderungen dieser Zeit zu begegnen? Denn andere „halten“ und unterstützen – egal ob es sich um die eigenen Kinder, einen Kollegen oder die Mitarbeiter*innen handelt – kann nur, wer den eigenen Boden pflegt und imstande ist, sich selbst eine gute Gastgeberin bzw. ein guter Gastgeber zu sein.